Loslassen – kein einfacher Schalter

Wir spre­chen so oft vom Los­las­sen, als wäre es eine Tech­nik, die man ler­nen kann, oder ein Schal­ter, den man ein­fach umlegt. Los­las­sen von Din­gen, die wir nicht mehr brau­chen. Los­las­sen von Vor­stel­lun­gen, die uns nicht mehr die­nen. Los­las­sen von Men­schen, die nicht mehr an unse­rer Sei­te stehen.

Ja, manch­mal befreit uns das. Aber manch­mal – und das wird sel­ten gesagt – steckt in die­sen Din­gen, in die­sen Bezie­hun­gen, in die­sen alten Träu­men unse­re pure Kraft und Lebens­en­er­gie. Ein Haus, das wir Stein für Stein gebaut haben. Eine Fami­lie, die wir mit all unse­rem Her­zen über vie­le Jah­re beglei­tet haben. Eine Auf­ga­be, in die wir Jah­re inves­tiert haben – das sind doch kei­ne lee­ren Hül­len, die man ein­fach abstrei­fen soll­te, wie man eine alte Jacke in den Alt­klei­der­con­tai­ner wirft.


Lebensphasen wie eine Ausbildung

Oft sind es auch Situa­tio­nen, wo man nicht damit gerech­net hat, dass sie zu Ende gehen – man dach­te, das geht immer so wei­ter und doch ist es zu Ende und man hört: “das ist völ­lig nor­mal, ler­ne ein­fach los­zu­las­sen”. Eine Freun­din brach­te den Ver­gleich, ob sol­che Lebens­pha­sen nicht eher wie eine Aus­bil­dung sind. Man tritt ein, ohne zu wis­sen, was einen erwar­tet, man lernt, kämpft, wächst. Es gibt Her­aus­for­de­run­gen, Prü­fun­gen, viel­leicht auch Trä­nen. Und irgend­wann ist der Lehr­plan erfüllt. Aber wenn der Tag der Abschluss­fei­er kommt – geht man dann ein­fach, dreht sich nicht mehr um? Oder trägt man das Gelern­te, die Erfah­run­gen, die Men­schen, die einen beglei­tet haben, für immer in sich?

Viel­leicht ist Los­las­sen gar nicht das Ver­las­sen eines Rau­mes, son­dern das Mit­neh­men des­sen, was einen dort stark gemacht hat. Das kann unglaub­lich befrei­end sein, aber manch­mal tut es ein­fach unglaub­lich weh.


Fäden im eigenen Lebensgewebe

Man­ches im Leben hält uns nicht, weil es uns fes­selt, son­dern weil es Teil unse­res eige­nen Gewe­bes gewor­den ist. Eine Rol­le, die wir lan­ge gespielt haben, weil sie gebraucht wur­de. Ein Traum, der ein­mal Flü­gel hat­te, heu­te aber eher ein Schat­ten ist. Ein Mensch, der nicht mehr wirk­lich Teil unse­res Lebens ist, aber noch in unse­ren Gedan­ken oder sogar im Her­zen wohnt.

Muss ich die­sen Faden lösen, damit er mich nicht mehr bin­det – oder gehört er inzwi­schen zu dem Mus­ter, das mich aus­macht? Macht mich genau die­ser Faden zu genau die­sem Men­schen der ich bin?

“Lass los – lass los” hallt es rund um mich her­um. Und ich mer­ke, ich habe das Bedürf­nis, hin­ter die­se Auf­for­de­rung zu bli­cken. War­um soll ich los­las­sen, was ist der Sinn davon?


Liebevolles Verwandeln statt Fallenlassen

Viel­leicht ist Los­las­sen gar nicht ein­fach los­las­sen, son­dern lie­be­vol­les Ver­wan­deln. Da fällt mir gleich die Rau­pe und der Schmet­ter­ling ein. Es gäbe kei­nen Schmet­ter­ling, wenn die Rau­pe nicht bereit wäre, ihr gan­zes Sein auf­zu­ge­ben. Wel­chen Mut erfor­dert das. Oder ist es gar kein Mut, son­dern ein Wis­sen um die natür­li­chen Pro­zes­se? Ein Ver­trau­en dar­auf, dass alles so kommt, wie es sein soll?

Ein Ver­trau­en in das Leben – wow – Ver­trau­en ins Leben – das sind sooooo gro­ße Worte.


Das große Versprechen der Natur

Ich leh­ne mich mit dem Rücken an den Stamm des Bau­mes und spü­re sei­ne Stär­ke. So eine Kraft, obwohl die Blät­ter sicht­bar fal­len. Der Baum ist nach wie vor da – in sei­ner gan­zen Stär­ke und Kraft. Er hat sich nur im Rhyth­mus der Natur ver­wan­delt und wird es wie­der tun. Das Früh­jahr wird kom­men, er wird neu aus­trei­ben und sich in sei­ner gan­zen Pracht zeigen.

Doch vor­her muss er durch den kal­ten Win­ter, in dem er wie tot aus­sieht. Das ist das Ver­spre­chen der Natur – auf jeden Win­ter folgt ein Früh­ling, und das, solan­ge unse­re Zeit hier auf Erden dauert.

So ein gro­ßes Ver­spre­chen.
Und solan­ge darf ich mich eben­falls immer wie­der ver­wan­deln. Ich dach­te, mit man­chem Men­schen gehe ich durch mein rest­li­ches Leben. Aber es scheint, es ist Ver­wand­lung dran, es hat ja auch was Aben­teu­er­li­ches, was kommt wohl Neu­es in mein Leben. Denn das habe ich schon lan­ge in der Natur gelernt. Die Erde bleibt nie nackt und ohne Bewuchs. Jedes Fle­cken auf­ge­bro­che­ne Erde wird neu besie­delt. Huch – was für ein tol­ler neu­er Gedan­ke. Das heißt, wenn etwas zu Ende geht, ent­steht etwas Neu­es. Der Über­gang kann sehr schwer sein und man weiss nicht was das Neue wird. In der Natur gibt es da die Pio­nier­pflan­zen, zunächst ver­buscht es, dann kom­men die Pio­nier­bäu­me und spä­ter die gro­ßen Eichen. Dh eigent­lich ist es immer ein Wan­del. Nichts bleibt. Wenn man gera­de denkt, jetzt hat man es erreicht, dann kommt die Veränderung. 

So gibt es eigent­lich auch kein Los­las­sen – das Wort ist eigent­lich falsch. Es ist ein­fach der ste­ti­ge Wan­del im natür­li­chen Ryth­mus. Wenn man etwas fest­hält kann es scha­den. Wenn der Baum sei­ne Blät­ter behal­ten wür­de, wür­de er die Kraft ver­lie­ren, denn die Käl­te wür­de trotz­dem kom­men und sei­ne Kraft wäre ein­fach ver­lo­ren. Viel­leicht ist es bei uns ganz genau­so. Wenn wir nicht in den Wan­del gehen, ver­brau­chen wir unnö­tig Kraft und wür­den sie sogar verlieren. 


In Frieden weitergehen

Ich leh­ne mei­ne Wan­ge an den Baum und bedan­ke mich für die wun­der­vol­le Bot­schaft und Lehr­stun­de, wel­che ich mit ihm erfah­ren durf­te. Mit einem fried­li­chen Her­zen gehe ich nun gestärkt in den Tag und bin gespannt, was er für mich bereithält.

6 Antworten

    1. Lie­be Andrea,

      dan­ke Dir für Dei­ne Wor­te. Ja – es ist nicht immer ein Los­las­sen, son­dern ein Mit­ge­hen im Fluss des Lebens. Schön, dass die Bil­der Dich erreicht haben.

      Alles Lie­be
      Heike

  1. Wie schön und berüh­rend. Ja wir ver­wan­deln uns und haben dabei schutz­lo­se Momen­te wie der Schmet­ter­ling oder die Libel­le beim Schlupf da dür­fen auch wir uns ein stil­les geschütz­tes Plätz­chen dafür suchen in die­ser Ver­letz­lich­keit bis unse­re Flü­gel erstarkt sind und uns wei­ter tragen
    Dan­ke Dir
    Beate

    1. Lie­be Beate,

      ja, genau so ist es. Die­se stil­len, geschütz­ten Momen­te sind kost­bar – und not­wen­dig, damit wir unse­re Flü­gel aus­brei­ten können.
      Dan­ke für Dei­ne schö­nen Wor­te und das Bild, das Du damit gezeich­net hast.

      Alles Lie­be
      Heike

  2. Lie­be Hei­ke, aus gan­zem Her­zen ein gro­ßes JA zu dei­nen Erkennt­nis­sen die Du so klar, sanft und wahr in Wor­te gefasst hast.
    🙏
    Ich füh­le in dei­nen Zei­len die Schwe­re, das Leid des Los­las­sens.… und dann die Erkennt­nis des ‘Son­nen­auf­gangs’ wel­cher ganz natür­lich all das beinhal­tet was war, nur anders, ver­än­dert.…. trans­for­miert eben…
    Was für ein berei­chern­der ‘Bericht’.❤️
    Eben nicht nur Wor­te.….. Thanks for sharing.
    Herzensgrüsse
    Sabine

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