Wenn Du durch spätsommerliche Hecken streifst, begegnet Dir der Schwarze Holunder (Sambucus nigra) fast von selbst. Er steht gern an Waldrändern, alten Hofstellen, in Feldhecken und an Bachläufen – ein großer Strauch, manchmal Baumhoch, mit graubrauner Borke und dem typischen weißen Mark im Holz. Seine gegenständig gefiederten Blätter duften herb, die flachen Blütendolden im Juni leuchten elfenbeinweiß und duften süß. Ab August hängen dort die tiefschwarzen, glänzenden Beerenrispen, von Vögeln heiß begehrt.
Kraftvolle Inhaltsstoffe
Holunderbeeren sind kleine Vitalstoffbomben. Sie liefern
- Anthocyane – die violetten Farbstoffe, starke Antioxidantien, die freie Radikale abfangen und die Zellen schützen.
- Vitamin C, Vitamin A, B‑Vitamine.
- Mineralstoffe wie Kalium, Eisen, Magnesium.
- Gerbstoffe, ätherische Öle und fruchtige organische Säuren.
Was bleibt nach dem Erhitzen?
Aufgrund des Sambunigrins sollte der Holunder 15 – 20 Minuten geköchelt werden. Beim notwendigen Erhitzen – ob Kochen oder Dörren bei 80–90 °C – verliert sich das Sambunigrin ein Teil der hitzeempfindlichen Vitamine, vor allem Vitamin C.
Die Anthocyane sind deutlich stabiler: Analysen zeigen, dass selbst nach 15 Minuten bei 90 °C noch über die Hälfte, oft deutlich mehr, erhalten bleibt. Farbe und antioxidative Wirkung bleiben also spürbar.
Sambunigrin – der stille Wächter
In den rohen Beeren steckt Sambunigrin, ein cyanogenes Glykosid.
Im Verdauungstrakt spalten Enzyme es zu Blausäure (HCN). Cyanid blockiert in unseren Zellen die Cytochrom-c-Oxidase der Mitochondrien.
Die Zellen können keinen Sauerstoff mehr nutzen – es kommt zum sogenannten inneren Ersticken. Typische Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerz, Schwindel.
Wie viel ist gefährlich?
- EFSA-Daten (2019) und toxikologische Studien geben die akut giftige Dosis für Menschen mit 0,5–3,5 mg Cyanid pro kg Körpergewicht an.
- Frische Holunderbeeren enthalten je nach Standort und Reife 3–17 mg HCN-Äquivalente pro 100 g.
- Schon 50–100 g roher Beeren können bei empfindlichen Menschen deutliche Magen-Darm-Beschwerden auslösen.
- Lebensbedrohliche Mengen liegen rechnerisch im Kilogramm-Bereich, aber niemand sollte sich auf solche Durchschnittswerte verlassen – Gehalte schwanken stark.
(Quelle: EFSA Scientific Opinion on cyanogenic glycosides in foods, 2019)
Was passiert mit dem Sambunigrin wenn es erhitzt wird
Wenn Du Holunderbeeren erhitzt, passiert etwas ganz Einfaches – auch wenn es in den Laborbüchern kompliziert klingt.
- Das Gift sitzt gut verpackt.
Sambunigrin ist wie ein kleines Päckchen, in dem Blausäure steckt.
Solange das Päckchen verschlossen bleibt, ist es relativ harmlos. - Hitze macht den Schlüssel kaputt.
Normalerweise öffnen Enzyme im Magen dieses Päckchen.
Bei 80–90 Grad geht der „Schlüssel“ kaputt – die Enzyme werden unbrauchbar. - Und das Päckchen zerfällt.
Durch die Wärme bricht auch die Hülle selbst auf.
Die Blausäure verfliegt als Gas, was übrig bleibt, ist ein Hauch Bittermandelduft und etwas karamellisierter Zucker – völlig ungefährlich.
Darum sage ich gerne:
Feuer ist der Freund des Holunders.
Erst wenn die Beeren im Ofen oder Topf ihr heißes Bad bekommen, geben sie ihre dunkle Kraft frei und verlieren das, was uns schaden könnte.
Wenn Du es genauer wissen möchtest, möchte ich es wie folgt erklären:
Wenn wir die Holunderbeeren erhitzen, zerlegt sich das Sambunigrin-Molekül in seine Einzelteile.
- Das Molekül an sich
Sambunigrin ist ein Glykosid: ein Zucker (Glukose) ist an ein sogenanntes Cyanhydrin gebunden – und genau dort sitzt die gefährliche CN-Gruppe (das Cyanid). - Hitze über 80 °C
- Die Hitze zerstört zuerst das Enzym β‑Glucosidase, das normalerweise im Verdauungstrakt den Zucker abspaltet.
- Ohne dieses Enzym kann das Gift nicht mehr „aktiviert“ werden. (der Schlüssel wird zerstört)
- Thermische Zersetzung
- Gleichzeitig bricht bei längerer Erwärmung die Bindung zwischen Zucker und Cyanhydrin von selbst.
- Es entstehen Glukose, Benzaldehyd (das riecht nach Bittermandel) und Blausäure (HCN).
- Die Blausäure ist flüchtig und entweicht als Gas. (also gut lüften beim köcheln)
- Nach dem Erhitzen
- Übrig bleibt harmlose Glukose und ein Hauch Benzaldehyd, der in den Mengen keine Gefahr darstellt.
- Das eigentliche Gift, das Cyanid, ist weitgehend ausgetrieben.
So gesehen wirkt das Kochen wie ein chemisches Reinigungsritual:
Feuer bricht die Bindungen, die Natur lässt die flüchtige Blausäure entweichen, und was bleibt, sind süßherbe, sichere Holunderfrüchte voller Anthocyane und Aroma.
Warum Vögel unbesorgt naschen
Für Amsel, Drossel & Co. gelten andere Regeln:
- Viele Vogelarten besitzen andere Verdauungsenzyme und einen schnellen Darmpassage-Rhythmus.
- Die Kerne und Schalen werden oft unzerkaut verschluckt, das Sambunigrin kommt kaum mit den nötigen Spalt-Enzymen in Kontakt.
- Außerdem können einige Vögel Cyanid rascher entgiften als wir.
So trägt der Holunder seine Samen mit gefiederten Helfern in die Landschaft – ein genialer Kreislauf der Natur.
Sicherer Umgang – die Kunst der Hitze
Damit Holunder uns nährt statt schadet, braucht er Feuer:
- Schritt 1: Frische Beeren im Ofen 15 Minuten bei 80–90 °C erhitzen.
Das zerstört Sambunigrin und inaktiviert die Enzyme, die Blausäure freisetzen. - Schritt 2: Danach auf 40 °C zurückschalten und fertig dörren.
Jetzt hast Du aromatische, sichere Trockenbeeren. Du kannst sie so lagern oder zu einem feinen Pulver mixen – ein tiefvioletter Winterbooster, den Du ins Müsli, in Smoothies oder in Tee rühren kannst.
Traditionell kocht man Holunderbeeren zu Saft, Sirup oder Gelee, was den Glykosidgehalt ebenfalls zuverlässig beseitigt.
Meine Empfehlung
Der Holunder ist kein Feind. Er lädt uns ein, achtsam zu sein – zu erkennen, dass auch eine Heilpflanze ihre eigene Sprache hat. Wenn wir sie verstehen und respektvoll handeln, schenkt sie uns Wärme, Kraft, ein sicherer, wirksamer Vorrat für die kalte Jahreszeit – direkt aus der Natur, mit Liebe und Wissen bereitet.
Erzähle mir doch von Deinen Holunder Erfahrungen
Viele Grüße
Heike